Vorwort
Ich bin auf dem Rückweg vom Spaziergang mit meiner Hündin, es ist gegen 22 Uhr. Vor dem Hoftor am Pfarramt zieht sie an der Leine zur anderen Straßenseite hin. Ich folge der Richtung, in die sie strebt, und schaue, was ihre Aufmerksamkeit erregt. Da entdecke ich einen Igel, der um die Ecke zur Auffahrt des Nachbargrundstücks abbiegt. Ich ziehe meine Hundedame zurück, mache die Leine am Hoftor des Pfarramts fest und gehe in die Richtung, in die der Igel fortgetippelt ist. Tatsächlich erreiche ich ihn kurz vor einem Treppenaufgang. „Na, was machst Du denn hier?“, frage ich den Kurzbeinigen, der von seiner Statur her offenbar ein Jungtier ist. Es ist Ende November, da müsste er doch eigentlich im Winterschlaf liegen. Aber es gab ein paar warme Tage und Nächte davor, vielleicht war das Tier davon aufgeweckt worden.
Zum Glück habe ich Lederhandschuhe bei mir. Also beuge ich mich zu dem Stachelträger hinunter, greife vorsichtig mit beiden Händen unter seinen Bauch. Sofort zieht sich der Igel zu einer Kugel zusammen. Behutsam hebe ich ihn auf, trage ihn hinüber zum Pfarrhaus. Vom Hoftor aus schaut meine Hündin mit großem Interesse zu, tänzelt mit den Vorderpfoten aufgeregt hin und her, als wir kommen. Am liebsten würde sie den Findling in meinen Händen beschnuppern. Das lassen wir lieber, zum einen, weil sich der Winzling in der Nähe des Hundes sicher fürchtet, was er aufgrund der für ihn ungewohnten Situation ohnehin tut, zum anderen, weil ich um die Unversehrtheit der Hundenase besorgt bin. „Nein, Phoebe, geh weg! Das ist nichts für dich.“, sage ich abwehrend zum Hund, und dem Igel zugewandt flüstere ich: „Was mache ich denn jetzt mit dir?“
Zum Glück gibt es im Haus einen leeren Karton, der wird zur Zwischenstation des Gartentiers, während ich in der Garage nach dem hölzernen Untersatz eines alten Meerschweinchen-Käfigs suche. Gut, wenn man alles aufhebt, denke ich, weil man’s immer mal brauchen kann. Der Untersatz ist bald gefunden. Mit einem Handfeger werden Staub und Spinnweben auf ihm entfernt. Zeitungspapier als Unterlage für den Boden, eine umgedrehte Obstkiste mit abgebrochenen Holzlatten als Zugang werden zum Igelquartier. Denn draußen lassen will ich ihn nicht, bei den eisigen Temperaturen, die für die nächsten Nächte angekündigt sind. Also zieht der Kleine im Pfarrhaus ein, zumindest für die nächste Zeit, bis ich eine geeignete Aufzuchtstation für ihn finde, so der Plan.
Wer nichts über Igel weiß oder nur meint etwas zu wissen, der kann sich auf den Seiten des NABU im Internet eines Besseren belehren lassen. Nachdem das Fund-Tier seinen Kasten bezogen hat, werden die NABU-Seiten im Internet zu meiner nächtlichen Lektüre und Beschäftigung. Nach einigen Textzeilen wird klar: Igel fressen kein Obst, nur Fleisch, vor allem Insekten. Schnecken und Regenwürmer gibt’s nur im Notfall, Katzenfutter als Pate ist geeignet, weil viele Proteine lebensnotwendig für den kleinen Gartenbewohner sind.
Gekochte Eier in jedweder Form, aber ungewürzt, sind willkommen, so auch gekochtes Hackfleisch, natürlich ohne Salz und ohne Gewürze. Soße und Gelee im Futter führen zu Durchfall. Ein flaches Behältnis mit frischem Wasser wird zum Durstlöschen empfohlen. Soweit das Lernergebnis.
Teller und Wasser habe ich schnell besorgt, nur am Katzenfutter hapert‘s. Hundefutter aus der Dose ist da, sogar mit Hühnerherzen. Das mag als Sofortmaßnahme genügen. Die Teller mit Futter und Wasser stelle ich zur Selbstbedienung vor den Eingang der Behausung, dann verabschiede ich mich für die Nacht, wünsche guten Appetit. Am nächsten Morgen, als ich den Raum betrete, in dem der Igel genächtigt hat, ist der Teller mit dem Hundefutter leer, hat also geschmeckt, aber auf Dauer ist das nichts. Also wieder an den PC: Ich kenne doch Menschen, die eine Katze haben, vielleicht können die uns mit Pate aushelfen. Am selben Morgen, nachdem ich die E-Mails verschickt habe, steht vor der Haustür eine kleine Dose Futter. Na bitte, die Nachbarschaftshilfe funktioniert! Behalten will ich den Igel aber nicht.
Die Gemeindesekretärin, der ich vom nächtlichen Fund erzähle, bietet an, bei der Suche nach einer Auffangstation zu helfen. Als ich ins Büro komme, hat sie folgendes Ergebnis: Viele Telefonnummern, die sie im Internet gefunden hat, sind veraltet. Auch die Polizei, die von ihr mit eingeschaltet worden ist, vermochte nicht zu helfen, obwohl man dort sehr freundlich war und sich sehr bemüht hat. Eine Station in Mainz hat wegen Überfüllung und Corona der Betreiberin geschlossen. Das einzige, was uns weiterbringt, ist ein Termin bei einer Tierärztin in Kirchheimbolanden. Dort fahren wir am Abend gemeinsam hin: die Sekretärin am Steuer, ich mit Igelkiste im Arm auf dem Beifahrersitz.
Wildtiere werden in der Regel von Tierärzten kostenlos behandelt, daran erinnere ich die Sprechstundenhilfe, die gleich zu Anfang fragt, wer von uns die Kosten übernimmt. Nach Rücksprache mit der Ärztin steht fest, dass sie den Gartenfreund unentgeldlich behandelt, während ich für die Medikamente aufkommen will. „Das ist mein Beitrag zum aktiven Tierschutz!“, bejahe ich. Es sollte nicht der letzte sein. Im Sprechzimmer erklärt die freundliche Medizinerin, die sich viel Zeit für uns nimmt, dass der Igel, den ich gefunden habe, tatsächlich ein Jungtier ist, viel zu leicht für sein Alter, gerade mal 500 Gramm schwer, er sollte eigentlich 800 bis 1000 Gramm wiegen. Die Tierärztin meint, dass er wegen seines Untergewichts nicht in Winterschlaf fällt, vermutlich wird er diesen Winter nachts wach bleiben und am Tag schlafen. Erst einmal muss er aufgepäppelt werden. Die Ärztin bestätigt, dass Igelstationen derzeit Mangelware und überlastet sind. Wenn ich es schaffe, das Tier den Winter über aufzunehmen und artgerecht zu halten, was mit etwas Arbeit verbunden sein wird, dann wäre das super.
Im Behandlungsraum wird der Igel entwurmt und mit Flohmittel besprüht, woraufhin eine Unmenge Parasiten aus den Stacheln springen. Allein beim Zusehen beginnt es uns zu jucken. Die Flöhe werden in einer Schüssel voll Wasser, mit Spülmittel versetzt, ertränkt.
Zecken würde es derzeit nicht geben, meint die Fachfrau, die wären im Spätherbst nicht mehr unterwegs. Dann drückt sie mir das Spray gegen Flöhe in die Hand, das soll ich auf jeden Fall mitnehmen und die Prozedur in der ersten Zeit alle paar Tage wiederholen, es könnten weitere Parasiten aus Eiern schlüpfen, die noch auf der Igelhaut sind. Flohmittel für den Hund bekomme ich ebenfalls mit, auch er könnte von den Blutsaugern befallen werden. Außerdem überreicht sie uns einen Karton mit Katzenpate. Nach einer ordentlichen Medikamentenrechnung und allen guten Wünschen verlassen wir die Praxis.
Der Igel lebt nun im Pfarrhaus. Jede Nacht geht er im Sitzungsraum spazieren. Jeden zweiten Tag putze ich ihm hinterher, mache zwei-, dreimal die Woche seinen Unterschlupf sauber. Allabendlich wird er mit frischem Wasser, Katzenpate, getrockneten Mehlwürmern und Igelfutterpellets versorgt. Er wächst und gedeiht prächtig, mittlerweile bringt er über 850 Gramm auf die Waage. Wenn ich ihn mit meinen Lederhandschuhen zum Wiegen hole, entrollt er sich schon vor dem Aufsetzen seiner Beinchen auf dem Boden, schaut sich neugierig um. Schnüffelnd hebt er die Nase und grunzt. Wenn wir mit Wiegen fertig sind, verschwindet er nach einigem Zögern mit Tempo in seiner Wohnung. Fühlt er sich gestört, etwa, wenn ich putze, brummt er. Er weiß hoffentlich, dass ich ihm nichts antun will. Vorsichtig bleibt er, und das ist gut so, denn im Frühjahr soll er so bald als möglich im Garten des Pfarrhauses ausgewildert werden.
Einen Namen hat der Kleine auch. Als ich meinem Ehemann von dem neuen Hausbewohner erzähle und erwähne, dass er sich instinktiv zusammenrollt, sobald Gefahr droht, meint mein Mann feixend, dass das wohl der Igel Rollmann ist, und so heißt er jetzt. Wie gut, dass es hinterm Haus den prächtigen Garten gibt, ein echtes Igelparadies, in dem auch eine Vielzahl anderer Tiere lebt: Bunt- und Grünspecht, Blau- und Kohlmeisen, Kleiber, Stieglitz, Buch-, Grün- und Zaunfinken, Spatzen, Amseln, Feldsperlinge, Rotkehlchen, Eichelhäher, Fasane, Eichhörnchen und vieles mehr. Letzten Sommer habe ich erlebt, wie sich in der Dämmerung zwei Igel unter meiner Vogelfutterstation begegnet sind: Sie haben einander angeknurrt – Revierverhalten im Paradies.
Wenn ich dieses Jahr die Pfarrei Kettenheim verlasse und von dem Pfarrhaus mit seinem schönen Außengelände wegziehe, um eine andere Pfarrstelle anzutreten, hoffe ich und wünsche mir, dass der Lebensraum hinterm Pfarramt mit seiner Artenvielfalt geschützt und erhalten bleibt! Tragen Sie mit dazu bei – gemäß dem Motto, wie es die Jahreslosung 2025 aus dem 1. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki/Griechenland (1. Thessalonicher, Kapitel 5, Vers 21) verheißt: „Prüft alles und behaltet das Gute.“ Ich wünsche Ihnen einen segensreichen Frühling!
Es grüßt Sie herzlich
Ihre Gemeindepfarrerin Anja Krollmann