Gnade sei mit Euch und Friede von Gott,
unserem Vater, und dem Herrn, Jesus Christus. Amen.  

Liebe GD-Gemeinde,

der Name dieses Sonntags -- ist „Invokavit“,
Invokavit bedeutet: „er rief an“.

Das klingt fast wie ein Werbeslogan der Telekom.

Eine Zeit lang hat die Telekom tatsächlich
mit einem ganz ähnlichen Satz geworben:

„Ruf doch mal an!“
Invokavit ist jedoch keine Aufforderung,

sondern: es wird festgestellt, dass eine Handlung bereits geschehen ist.

Und bei dieser Tatsache handelt sich nicht
um ein Telefongespräch,
sondern um ein persönliches Rufen.
Da ruft jemand einen anderen unmittelbar.

Wann rufen wir?
Ich weiß nicht, was Ihnen zu dieser Frage einfällt.

Mir fällt als erstes ein:
Wenn einer schwerhörig ist,

dann müssen wir laut rufen,
damit der andere uns hört.

Oft werden Menschen laut,
wenn sie aufgeregt sind,
wenn ihnen etwas besonders wichtig ist.

Menschen rufen auch,
wenn sie weit voneinander entfernt sind.

In dem Predigttext, um den es heute geht,
wird ebenfalls gerufen.

Der Rufende ist jedoch nicht weit
von dem anderen entfernt.
Er steht unmittelbar vor ihm.

Der andere ist auch nicht schwerhörig.
Er hört aufmerksam zu.
Er nimmt den Ruf wichtig.

Der Ruf, von dem die Bibel erzählt, zeigt:
jemandem ist ein Anliegen wichtig.

Der, der ruft, ist Christus.
Der, der angerufen wird, ist Gott.

Und das, was Inhalt des Rufens ist,
das sind wir Menschen.

Es geht also um uns.
Ich lese aus dem Brief an die Hebräer 4,14-16.
Da schreibt der Verfasser des Hebräerbriefs an uns:

Da wir nun einen mächtigen Hohenpriester haben,
der die Himmel durchschritten hat, Jesus, Gottes Kind, so lasst uns am Bekenntnis festhalten! Wir haben einen Hohenpriester, der über unsere Schwächen Mitleid empfindet. Jesus wurde ja genau wie wir
in allem auf die Probe gestellt, aber er entfernte sich nicht von Gott. Deshalb lasst uns mutig vor den Thron treten, an dem unser Unrecht vergeben wird, damit wir – wenn wir Hilfe benötigen – zur richtigen Zeit Barmherzigkeit empfangen und hilfreiche Zuneigung finden. – Gott, segne an uns dein Wort.

Liebe Brüder und Schwestern,

die Gemeinde,
an die dieser Brief geschrieben worden ist,

befand sich in einer ganz ähnlichen Situation
wie wir heute.

Sie hat ziemlich das Gleiche erlebt:
Gotteshäuser werden leerer,

Menschen ziehen sich aus ihrer Gemeinde zurück
oder treten gleich ganz aus der Kirche aus.

Denen, die noch zur Gemeinde gehören,
fehlt oft der Mut,

fehlen Entschlossenheit, Überzeugungskraft, Glaubensstärke.

Christ zu sein ist nicht mehr in Mode.

Wie oft wird der Glaube an Gott
der eigenen Bequemlichkeit geopfert,
Gottes Willen dem eigenen Willen angepasst.

Woran werden Christen noch als Christen erkannt?
Das ist eine Frage, die sich uns heute auch stellt.

Viele der Christen sind Mitläufer geworden,
angepasst an eine Welt,
in der oft nur der eigene Vorteil zählt.

Was früher als Individualismus
– auch im Christentum gepriesen war --
ist heute purer Egoismus.

Ich erlebe das in vielen Bereichen des Lebens,
Sie vermutlich auch.

Da ist das Vordrängeln beim Einstieg in einen Bus oder Zug noch ein harmloses Beispiel.

Viele nehmen sich selbst wichtiger als alle anderen,
vergessen die Achtung des Mitmenschen,
den Nächsten..

„Jeder ist sich selbst der Nächste.“
Dieser Satz gilt oft in unserer Gesellschaft.

Ein weniger harmloses Beispiel für diesen Egoismus
ist für mich die Harz IV-Debatte:

Harz IV gibt es nicht nur für die,
die nicht arbeiten möchten.

Das gibt es schon nach einem Jahr,
auch für die, die keine Arbeit finden
trotz Bewerbungsschreiben.

Der Stellenmarkt ist leer.
Ich erlebe das zurzeit auch im Freundeskreis:

Da ist einer während der Wirtschaftskrise
arbeitslos geworden,

jetzt sucht er als Kaufmann
oder Verwaltungsangestellter Arbeit,

doch mit 45 Jahren
gilt er schon als schwerer vermittelbar.

Die wenigen Stellen, die es gibt,
treffen auf eine Fülle von Bewerbern.

Die Arbeitgeber können wählen.
Oft wird Macht dabei radikal ausgenutzt.

Mit den einzelnen wird
nicht mehr verantwortungsvoll umgegangen.

Da werden Bewerber für mehrere Tage
zum kostenlosen Testarbeiten eingeladen,

danach warten sie Monate lang auf Antwort.

Und wenn sie eine Antwort bekommen,
ist die entweder meist negativ,

oder sie werden zu schlechteren Konditionen angestellt als vorher –
ganz gleich welche Berufserfahrung sie haben.

Die Bezahlung entspricht der eines Anfängers.
Einstiegslöhne sind extrem niedrig.

Menschen werden wie Humanmaterial behandelt,
mit Dumpinglöhnen bezahlt,

ausgebeutet, menschenunwürdig behandelt.

Und die Kirche schweigt,
zumindest habe ich keinen Widerspruch gehört.

Viele Christen schweigen auch,
so lange nicht die eigene Existenz gefährdet ist.

Die Christen sind – damals wie heute –
lau geworden.

Wo bleibt der Aufschrei
angesichts menschenunwürdiger Öffnungszeiten
bei Warenhäusern und Lebensmittelmärkten?

In einem Supermarkt in Alzey
habe ich zwischen den Jahren eine Familie gesehen,
die hat dort mehrere Tage ihre Ferien verbracht:

Während die Mutter an der Kasse gearbeitet hat,
wurde der Supermarkt zum Ersatzwohnzimmer,

und das nicht, weil es ihnen so gut gefallen hat,

sondern weil die Kinder so bei ihrer Mutter waren
und der Ehemann mit seiner Ehefrau zusammen.

Ich weiß nicht, was Sie jetzt darüber denken.
Mich hat dieses Bild traurig und wütend gemacht.

Es erinnert mich an eine Gesellschaft,
die es vor 150 Jahren schon mal gegeben hat:

Bei der industriellen Revolution war
mit dem technischen Fortschritt
Schichtarbeit in Fabriken entstanden
und damit verbunden die Folge,

dass Kinder kaum noch ihre Eltern gesehen haben,
weil der Lohn in den Fabriken so niedrig war,
dass Väter, Mütter und Kinder dort gearbeitet haben.

Damals fast wie heute.

Aber auch heute gibt es Menschen,
bei denen reicht eine Stelle nicht aus,
weil sonst das Nötigste zum Leben fehlt.

Die müssen zwei oder mehr Jobs annehmen,
um die Familie zu ernähren.
Das ist eine Folge des fehlenden Mindestlohngesetzes.

Was sagen die Christen dazu?

Wo ist ihr Ruf für ein menschenwürdigeres Leben,
eine gerechtere Verteilung des Geldes?

Der bequeme Christ von heute schweigt.

Er ist auffallend unauffällig geworden,
angepasst, ein Leisetreter, Mitläufer.

Ich behaupte mal:

Je unauffälliger die Christen werden,
je weniger sie sich mit christlichen Werten
wie Nächstenliebe und Gerechtigkeit identifizieren
und damit zu erkennen geben,

je mehr sie sich dieser Welt
und ihren Spielregeln anpassen,

einordnen in eine Gesellschaft,
in der nur der eigene Vorteil zählt,

umso mehr verlieren sie ihre Identität,

ihre Wahrnehmung durch außen
und ihre Wirkung nach außen.

Der Autor des Hebräerbriefes warnt davor:

Er schreibt von Schwächen der Christen,
mangelndem Bekenntnis,
von Fehlern und Schuld.

Und er prangert auch unsere Schuld an.

Aber: Er bleibt bei dieser Schuld nicht stehen,
er ist auch Seelsorger.

Und als solcher schreibt er:

„Wir haben einen Hohenpriester, Jesus, Gottes Kind,
der über unsere Schwächen Mitleid empfindet.“

Liebe GD-Gemeinde,
wir haben einen Gott, der selbst Mensch wurde,

um Anfechtungen zu erleben wie wir
und Versuchungen ausgeliefert zu sein,

einen, der weiß, wie schwer die Versuchungen sind,
und was es heißt, ihnen täglich zu begegnen.
        
Jesus hat in der Wüste den Verführer erlebt.
Wir haben es vorhin in der Lesung gehört.

Und dieser Verführer lockt ihn
mit allerlei köstlichen Dingen:

„Darauf führte ihn der Teufel mit sich
auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: „Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“

Aber Jesus widersteht.

Liebe GD-Gemeinde,
so schwach wir in der Verführung werden mögen,

einer ist stark geblieben,
einer hat widerstanden,

und der steht zu Ihnen und mir,
den haben wir auf unserer Seite,

trotz oder gerade wegen der Fehler, die wir machen.

Der ist da, um auch für uns vor Gott zu treten
und für uns zu beten.

Gott sei Dank:
In dieser vom Egoismus geprägten Zeit
gibt es wenigstens einen, der nicht an sich denkt,

der mit leidet – auch mit unseren Schwächen,

einen, der Mitleid hat sogar mit denen,
die ohne Mitgefühl sind, die sich unsolidarisch zeigen.

Jesus leidet mit als einer von uns Menschen.

Und doch: Er unterscheidet sich von uns
in einer entscheidenden Weise
wie es im Hebräerbrief heißt:
„aber er entfernte sich nicht von Gott.“

Jesus bleibt seinem Glauben treu.
Auch im Garten Gethzemane:

Als er noch fliehen konnte,
ist er nicht geflohen – trotz Todesangst.
Er trat seinen Leidensweg an.

Auch Jesus zweifelte – am Kreuz:

„Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34)

Und doch vertraute er sich letztlich
in seinem Sterben Gott an:

„Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“
(Lk 23,46)

Gut, dass wir diesen einen auf unserer Seite haben,

einen, der so stark ist im Glauben,
dass er auch für uns ruft.

Jesus selbst tritt für uns vor Gott ein.

„Deshalb lasst uns mutig vor den Thron treten,
an dem unser Unrecht vergeben wird, damit wir – wenn wir Hilfe benötigen – zur richtigen Zeit Barmherzigkeit empfangen und hilfreiche Zuneigung finden.“

Liebe GD-Gemeinde,
in Jesus Christus ist Gott uns nahe.

Aufgrund dieser Barmherzigkeit
können wir es uns leisten,

selbstlos und verschwenderisch großzügig,
barmherzig zu sein.

Christ zu sein kann unsere Antwort
auf Gottes Ja zu uns Menschen sein.

Lassen Sie uns also wahrhaftig christlich sein.

Geben wir dieses Ja, das Gott zu uns spricht,
als unser Ja zu den Menschen weiter,

treten wir für menschwürdigere Arbeitsbedingungen,
für ein menschenwürdigeres Dasein ein!

Fangen wir damit an, uns denen zuzuwenden,
die unsere Solidarität und Hilfe brauchen,
unseren Ruf nach mehr Menschlichkeit und Mitgefühl.

Invokavit – „Er rief an!“
Lasst diesen Leitspruch auch zu unserem werden.

Das Bekenntnis zu Christus meint:
Mit anderen solidarisch sein!

Und wo wir solidarisch sind,
da nimmt die Welt uns als Christen wahr!

Wo wir als Christen wahrgenommen werden,
da zeigen wir unser Bekenntnis zu Gott,
da sind wir wahrhaft Jesu Jünger.

Als Christen gehen wir auf Menschen zu,
kommen ihnen näher.

So kommen Menschen zur Kirche,
indem wir ihnen nahe sind.

Lasst die Kirche zu einer Gemeinschaft werden,
in der Menschen sich geachtet
und willkommen fühlen,

dann finden sie vielleicht auch Grund,
in den Gottesdienst zu gehen
und aus Überzeugung in die Kirche einzutreten.

Macht unsere Gemeinde lebendiger,
indem wir glaubwürdiger christlich sind.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.